Pogromnächte

Ich bin einer von den Menschen, die niemals träumen. Seit neulich ist das anders. Die wildesten Albträume jagen mich, wie neulich der, in dem mein linker Eckzahn auf eine besonders hässliche Weise entzweibrach, den Zahnnerv frei legend. Damit war es nicht zu Ende: ich biss mir versehentlich meine eigene Zunge ab, vollkommen ohne Blut oder Schmerzen. Der große, unförmige Fleischlappen in meiner Hand irritierte mich sehr. “Was tun?”, dachte ich im Traum, “Lässt sich das wieder rannähen?”

Als ich meiner Frau von diesem Traum erzählte, rief sie bedauernd aus, dass ich wohl nie wieder Zunge für sie kochen könnte. Ich dachte zurück an einen frühen Abend im Januar dieses Jahres, als ich mit Einkäufen nach Hause fuhr. Ich erinnere mich vor allem an den Blick eines anderen Menschen in der Bahn. Wahrscheinlich eine weiße Deutsche, die die halbtransparente Plastiktüte vom türkischen Metzger mit einer Mischung aus Entsetzen, Ekel und Vorwurf ansah. Erst in diesem Moment schien ich zu bemerken, dass in der Tüte ein unterarmlanges Stück Fleisch lag, ungeschnitten, roh, blutend. Verlegen drehte ich mich weg, meinen Einkauf schwer in der Hand haltend. Was ist mir wichtiger: die Kindheitserinnerungen an ein Festtagsessen und meiner Frau zu ihrem Geburtstag das zu kochen, was sie sich gewünscht hat, oder mein Mitgefühl mit einem Lebewesen, das eine Zunge hat wie ich selbst?

Was bedeutet es für einen Autor, seine Sprache zu verlieren? Was bedeutet es für jemanden wie mich, der ich nun schon seit Jahren logopädisches Training mache, nicht mehr sprechen zu können? Wie es ist, keine Worte zu haben, weiß ich seit meiner Kindheit sehr gut. Manchmal reicht ein sogenannter Migrationshintergrund aus, um ein Kind stumm zu machen, manchmal ist es die Angst vor erlebter und noch zu erlebender Gewalt. Manchmal sitzt die Gewalt aber schon im Körper eines Menschen, bevor er zur Welt kommt.

Die Nachrichten aus Dagestan verbreiteten sich vor allem unter post-sowjetischen Menschen wie ein Lauffeuer. Die jüdischen von ihnen reagierten darauf nicht nur mit Entsetzen, sondern auch wie mit einer großen Taubheit. Eine Frage der Zeit war es gewesen, natürlich, darüber herrschte unter Juden Einigkeit. Vor allem sowjetisch jüdische Zeit wird so berechnet: als Halbwertzeit bis zum nächsten Pogrom. Ich spürte unterdessen eine große innere Aufruhr, einen Drang, etwas wirklich Großes und Wichtiges zu schreiben. Ich schrieb aber nur einen einzigen Satz:

Stell dir vor, der Moment, in dem die Welt am meisten über deine Leute erfährt, ist der Moment ihrer Vernichtung.

Ich suchte seit meiner frühen Jugend in unregelmäßigen Abständen nach dem, was mir in russischer Sprache erzählt wurde und fand erst Nichts, dann einen kurzen, dann einen langen und schließlich sogar deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag. Ich fand die Online-Präsenz einer Gruppe orthodoxer Juden und den offiziellen Vertreter “meiner” Leute auf deutschem Boden: einen noch recht jungen Osteuropäer mit Bart und Kippa. Das waren sie also, die anderen “Bergjuden”.

Kultur, Sprache oder Tradition waren nie wirklich Bestandteil meines bescheidenen Erbes gewesen. Farsi und Juhuri hatte mein Opa abgelegt, als er für das Studium nach Leningrad zog. Seinen eigenen Vornamen änderte er in einen russischen. In seinem Leben, das aus harter Arbeit, großer Entbehrung und schließlich großer Enttäuschung bestand, war kein Platz für Religion. Alles, was mir von meiner dagestanisch-jüdischen Herkunft noch bleibt, ist mir in das Fleisch eingeschrieben: meine früh erlernte Vorliebe für Lamm, Koriander und scharfe Gewürze. Meine gelbliche Haut, die vor allem in unbeschwerten jungen Jahren des mangelnden Sonnenschutzes schnell eine satte Bräune zeigte und noch tief in den Herbst hinein bronzefarben blieb.

Am Abend des vierten Januars stehe ich mit meinen Einkäufen vom türkischen Markt in der Küche. In meiner Vergangenheit war ich Biologe und Bestatter. Den körperlichen Tod habe ich nie gescheut. Aber plötzlich finde ich in der Plastiktüte das Grauen, etwas wirklich Schreckliches: eine zweite Zunge, die sehr viel kleiner ist. Auch sie ist vom Rind, meine Nase und mein erfahrenes Auge können das erkennen. Eine kleine Zunge von einem kleinen zweiten Tier.

Was brauchen wir Menschen, um Mitgefühl mit anderen zu haben? Was müssen wir uns sagen, damit die Scham uns nicht mehr sticht, damit wir nachts nicht wach liegen? Welche guten politischen Gründe und welche übergeordneten moralischen Grundsätze erzählen wir uns gegenseitig, um zu erklären, warum das Unrecht geschehen musste oder noch geschehen wird? Ist nicht das Mitgefühl mit und unter Menschen eigentlich das Ungewöhnliche, das Unnatürliche? Was unterscheidet einen “Bergjuden” zum Beispiel von einer “Bergziege”, die doch auch bestimmt vom Aussterben bedroht und durchaus irgendwie putzig ist? Wie können wir denn überhaupt leben, wenn nicht auf Kosten anderer Lebewesen?

Sicher sind schon lange vorher Juden ermordet worden, aber meine persönliche Realität zerbrach endgültig am Morgen des 7. Oktobers. Was zerbrach, war mein Glaube daran, dass die meisten in meinem Umfeld Empathie mit mir und Leuten wie mir haben werden, wenn sowas geschieht. Der Glaube war ohnehin nie besonders stark. Wiederkommen wird er nicht.

An Tagen wie diesen

Foto von Michael Kohls

Mein Problem war ja schon immer, dass ich einfach nicht zurückgeliebt wurde.

Nein, nein: nicht von meiner Mutter oder von „den Frauen“, darum soll es hier nicht gehen. So eine private Wehleidigkeit können sich im Moment nur die leisten, die wirklich keine anderen Probleme haben. Nicht zurückgeliebt wurde ich zunächst von meinem schönen Deutschland, in dem ich über zwei Jahrzehnte lang vorbildlicher Integrationsausländer war. Wie gerne wäre ich Deutscher gewesen – Hamburger Lokalpatriot, Norddeutscher mit Regenjacke und bescheuerter Mütze. Blass, abweisend und Fisch liebend, wie ich bin, wäre ich überhaupt nicht aufgefallen.

Scherz beiseite: Menschen, die ihre patriotischen Gefühle ohne Scham ausleben können, finde ich zutiefst suspekt. Patriotismus – so meine Assoziation – geht einher mit der Lust auf Fleisch: beim Essen, in Form von sexualisiertem Frauenhass und natürlich auch mit der Lust aufs Morden, ob nun bei der Jagd oder an der Front. „Patriotismus“ ist nicht zufällig etymologisch mit „Patriarchat“ verwandt. Patriotismus ist Besitzanspruch und Entmenschlichung. Der*die*das Andere ist eine amorphe Masse und das patriotische Selbst derjenige, der sie zu beherrschen versucht. Ich bin belesen genug, um all das zu verstehen. An Tagen wie diesen werde ich aber in die Ecke gedrängt, denn ich muss mich, so leid es mir auch tut, positionieren.

Wo auf dieser Welt kann ich wirklich authentisch sein?

Wo, wenn nicht auf dem einen Fleckchen Erde, das meinen Leuten nicht gegönnt wird? In dem Land, in dem ich noch nie war, dem, in das ich auswandern wollte? Bitte, wenn ihr Leute wie mich abschieben wollt, dann schiebt auch mich ab. Nur wohin? In die Sowjetunion?

Deutsche lieben nette Juden, aber ich kann gerade nicht nett sein. Lieblichen Pazifismus kann ich einfach nicht bieten. Kein „Slava Ukraini“ ging mir jemals über die Lippen, denn ich bin Russe, es hätte mir nicht zugestanden. Aber verstehen konnte ich es, dieses Bedürfnis, eine Waffe zu ergreifen und für das Überleben des eigenen Landes zu kämpfen.

Zu wem oder was macht mich das? Bin ich in den Augen der Linken, die nach meinem Empfinden „meine Leute“ sind, nun das jüdische Gegenstück zum Weißwurstpatrioten?

Einen Regenmantel trage ich, weil es nun mal wirklich regnet. Fisch esse ich, wenn er koscher ist und eine Wollmütze setze ich auf, um am Freitagabend mit der Bahn nach Hause zu fahren, so, wie wohl alle männlichen Juden. Ich habe nachts weniger Angst, unterwegs zu sein, denn im Dunkeln begegnen mir weniger Leute. Sicher könnte ich Opfer patriarchaler Gewalt werden, noch sicherer bin ich aber vom deutschen Patriotismus „betroffen“. Ich wünschte so sehr, meine alltägliche Angst und Scham wären genau die private Wehleidigkeit, die manche Menschen zu Literatur verwursten (Pardon). Leider lassen sie sich nicht zur großen menschlichen Universalie breittreten: es sind Judengefühle. In einer Gruppe von jüdischen Menschen offenbarte ich neulich, dass ich mich oft mit Texten von Shoah-Überlebenden tröste. Kertész half mir in schweren Zeiten, Levi berührte mich fast mehr als Kafka, bei Améry hörte ich mein eigenes Herz reißen. Judenliteratur, die als Einzige ein Gefühl beschreibt, das ich mein Leben lang kenne: das Gefühl der unendlichen kollektiven Verletzlichkeit. Es gibt so Viele, die uns verletzen wollen, die uns auch schon verletzt haben. Wir konnten so unfassbar wenig dagegen tun.

Sagt mir: würdet ihr nicht auch zur Waffe greifen wollen?

Das Herz der Angst

Ich sitze in einem Bus nach Berlin, als ich zufällig ein fremdes Gespräch mithöre. Zwei Boychiki, die sich selbst als „Kanacks“ bezeichnen, gehen in diesen drei Stunden in große emotionale Tiefen. Einer sinniert darüber, wie befreiend er es findet, mit Lesben befreundet zu sein, weil dann klar ist, dass es kein Flirt ist, sondern eine Freundschaft. Er erzählt, dass schwule Männer ihn oft meiden, wenn er die „Seiten auf Null“ hat, weil sie denken, dass er „toxisch“ sei. Auch fremde ältere Frauen würden sich in der Bahn umsetzen, wenn seine Haare so kurz sind. Der andere wirft ein, dass manche, die so aussehen, sich ja wirklich daneben benehmen, und wie negativ sich das auf alle anderen auswirkt. Als ich den Bus verlasse, vermeide ich es, mich erneut nach meinen beiden hinteren Sitznachbarn umzusehen. Ich bin schon vielen jungen Männern begegnet, die so aussahen wie diese beiden: in der Sauna, in der schwulen Dating-App. Natürlich frage ich mich immer, ob jemand von ihnen Nationalist und Frauenhasser ist oder vielleicht sehr ambivalente Gefühle bezüglich der eigenen sexuellen Bedürfnisse hat – so, wie ich selbst im Übrigen auch. Das hat unser sexuelles Miteinander aber nie belastet. Jedenfalls nicht von meiner Seite.

An dem regnerischen Morgen des heutigen Tages beschließe ich, zum Friseur zu gehen. Es ist nicht nur Freitag, der 13te, sondern auch der erste Trauerschabbat nach Beginn des Krieges. Wegen der Terrorwarnung ist der Steindamm überlaufen von Polizeiwagen und Uniformen. Als ich an der Moschee und der davorstehenden Gruppe von Polizisten vorbeigehe, geht mir das Offensichtliche durch den Kopf: Wer bin denn eigentlich ich für sie?

Mein Stammfriseur ist nach langer Abwesenheit wieder da. In den Laden eintretend erwische ich mich bei einem Lächeln und lüge auf seine Nachfrage hin hastig, dass es mir gut gehen würde. „Mein“ Friseur in Hamburg ist Türke, das weiß ich, denn dorthin verreist er im Spätsommer zu meinem Leidwesen für ein paar Monate. Mein Berliner Friseur dagegen, der ein warmer, überaus redebedürftiger Mensch ist, erzählt oft von seiner Kindheit in Jordanien. Einmal fragte ich ihn nach einem Bild der al-Aqsa-Moschee an seiner Wand, woraufhin er mir eröffnete, dass er in Wirklichkeit Palästinenser sei. Ich weiß nicht, warum ich nie den Mut hatte, ihm zu sagen, wer und was ich wirklich bin. Etwas in mir will und muss wissen, dass er einer von den Guten ist, dass er auf der richtigen Seite ist (welche ist das?) oder zumindest, dass er mich nicht hasst. Dieser Teil von mir ist es, der mich daran hindert, es herauszufinden.

In Berlin angekommen schaffe ich es nicht nach Neukölln. Aber heute in Hamburg sitze ich in einem Friseurstuhl und freue mich still, dass „mein“ Friseur wieder da ist, dass seine gründlichen, aber vorsichtigen Hände es sind, die meinen Kopf anfassen. Ja, auch eine Form der Care-Arbeit, denke ich vor mich hin. „Syzyfowa praca”, eine Sisyphosarbeit, würde meine Frau vielleicht sagen, denn genauso wie das Kochen und das Putzen ist das Haareschneiden ein ständiger, geradezu aussichtsloser Kampf. Das, was dabei hergestellt wird, ist natürlich unendlich viel wichtiger als Sauberkeit und Nahrung: die Männlichkeit wird aufrechterhalten. Dadurch, dass einige von ihnen mich gegen ein kleines Entgelt als ihren Kunden akzeptieren, auch meine. Meine Angst, meine Dankbarkeit, meine Loyalität gegenüber „meinen“ Friseuren in den beiden Großstädten, die meine Lebensmittelpunkte darstellen, ist weder trivial noch meine persönliche Befangenheit. Sie ist das Lebensgefühl von einem, der nirgendwo wirklich dazugehört.

Wer bin denn eigentlich ich für sie? Wer bin ich, wenn ich meine Hamsa mit Davidstern um den Hals trage, wenn ich in der schwulen Sauna meine Stiefel und meine Fliegerjacke abgelegt habe, wenn ich vom Friseur komme und nur ein weiterer Schwarzhaariger am Obststand bin, wenn ich sage, dass ich aus der ehemaligen Sowjetunion komme und sie mich fragen, ob ich ein Russe sei?

Wer bin ich für die beiden im Bus? Haben sie mich so verstohlen beobachtet wie ich sie?

In mir regt sich ein unbändiges Verlangen. Ich schreibe es in mein Tagebuch: Nie wieder möchte ich mit einem Jan-Philipp schlafen. Auch nicht mit einer Ann-Kathrin, noch nicht einmal mit einer nicht-binären Person, die weiß, christlich und deutsch ist. Versteht mich nicht falsch. Ich hasse diese Menschen nicht. Ich sehe auch, wie gerade die Queers von ihnen sehr viel strukturelles Leid erfahren. Aber in Momenten wie jetzt werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich niemals wirklich verstehen können. Wie war das nochmal mit dem selbsthassenden Witz darüber, dass Juden unbedingt mit blonden Menschen schlafen wollen? Ich gebe es zu, ich wollte es wirklich schon immer. Die Blondine, mit der ich am häufigsten schlafe, spricht meine Muttersprache, ist Migrantin und hat in ihrem Leben viele Jahre der bittersten Armut überlebt. Ich habe sie geheiratet, weil wir Schicksalsgenossen sind – nicht, weil ich sie vor der Abschiebung retten wollte. Retten wollte ich dadurch höchstens mich selbst, moralisch, nach all den Jahren, in denen ich mich dem Deutschsein angebiedert habe.

Ich möchte den türkischen Onkel, der meine Haare schneidet, umarmen und weinen, denn mir ist, als wäre ich in den vergangenen Tagen überhaupt nicht zum Weinen gekommen. Wie es ihm jetzt gerade wohl geht, meinem Berliner Friseur?

Wie kann ich jemals danach fragen?

The Jewish Girl

https://www.lesbengeschichte.org/bio_charlaque_d.html

Charlotte Charlaque, 1892 in Berlin-Schöneberg mit dem Namen Scharlach geboren, hatte eine bewegte Lebensgeschichte. Migration, Mehrsprachigkeit, das Überleben als Jüdin in einer feindlichen Umgebung und die Suche nach Liebe und Glück entgegen aller Widerstände – all diese Dinge sind meiner eigenen Biografie so sehr eingeschrieben, dass mir eine E-Mail, die ich vor fast genau einem Jahr erhielt, wie das Klopfen des Schicksals erschien. Mir wurde angeboten, Charlotte Charlaque in einem Film über das queere Berlin des frühen 20. Jahrhunderts zu spielen. Charlotte war eine der trans Patientinnen von Magnus Hirschfeld, des Sexualwissenschaftlers, dem wir die erste „Queer Theory“ zu verdanken haben. Mit der Künstlerin Toni Ebel, die 1933 zum Judentum konvertierte, verband sie mehr als nur eine jahrzehntelange Freundschaft und das gemeinsame Überleben trotz Verfolgung und bitterster Armut. Toni und Charlotte sind für mich die tragischste lesbische Liebesgeschichte des vergangenen Jahrhunderts – eine von sicherlich vielen, die durch den Nationalsozialismus auseinandergerissen wurden und von denen wir nie etwas erfahren werden. Außergewöhnlich ist an dieser, dass beide Frauen nicht nur Lesben und Jüdinnen waren, sondern auch transgeschlechtlich in einer Zeit, in der das eigentlich fast unmöglich schien.

Ob ich das Recht habe, eine transgeschlechtliche Frau zu spielen, habe ich mich lange gefragt. Manche werden diese Frage anders beantworten als ich, und natürlich erkenne ich diese Meinungen an. Nur ist es so: ich konnte nicht anders, als es zu tun. Wäre ich an diesem sonnigen Herbsttag nicht in den ICE gestiegen, hätte ich nicht für die Rolle vorgesprochen, hätte ich es für immer bereut. Wenige Monate später verbrachte ich dann eine bewegende Woche im verschneiten Berlin. In einer Drehpause besuchte ich das Jüdische Museum noch mit vollkommen aus der Zeit gefallenen, ausrasierten Augenbrauen. Das Bild von mir, auf dem ich als jüdisches Schneewittchen zwischen hohen Steinsäulen umhergehe, wirkt ein bisschen wie ein Selfie beim Denkmal für die ermordeten Juden am Brandenburger Tor. Ähnlich uneben ist der Boden in diesem Außenbereich des Museums, der sich „Garten des Exils“ nennt. Nur einen wichtigen Unterschied haben die beiden Bauwerke: auf den Stelen des „Gartens“ wachsen lebende Pflanzen, Ölweiden. Eine schöne Metapher für den Lebenshunger derer, die durch die Emigration alles verloren haben. Auch auf mir wächst und blüht es, entgegen allem, was die Frau, die ich bin, verhindern wollte. Die Rosen, die meine Brust überwuchern, schmücken auch das Abendkleid, das ich in einer Szene des Films trage.

Ich sage manchmal, dass ich trans und eine Frau bin, aber keine trans Frau. Wie es sich anfühlt, für die eigene Weiblichkeit erbittert gekämpft zu haben, weiß ich aber durchaus. Das ist es, was mich mit Charlotte und vielleicht mit allen trans*weiblichen Personen verbindet: „Sie haben versucht, uns umzubringen, wir haben überlebt“, um den alten Spruch über den Ursprung der meisten jüdischen Feiertage zu zitieren. Der Zynismus einer Person, die vor kurzer Zeit recht öffentlich kommentierte, transgeschlechtliche Personen hätten sich im Gegensatz zu Juden*Jüdinnen während des Nationalsozialismus ja bestens verstecken können, erscheint geradezu grotesk. Ich könnte an dieser Stelle nachhaken, warum eine deutsche Goja meint, dass das Jüdischsein unübersehbar in einen Menschen eingeschrieben sei, aber natürlich geht es dieser Person niemals auch nur um eine interne Logik. So wie der (erdachte) Jude immer sofort zu erkennen und gleichzeitig immer trügerisch-unsichtbar ist, ist es auch diese Fiktion von „der trans Person“. Dass die deutschen Gesetze der Namensänderung viel strenger sind als die der meisten Länder, ist kein Zufall. Nicht, dass jemand wie ich noch versucht, deutsch und unsichtbar zu werden. Das Gesetz als eine von diesen kleinen Spuren der Geschichte, die von niemandem beseitigt worden sind.

1933 lebten Charlotte und Toni zunächst in Berlin, bevor sie zusammen in die ehemalige Tschechoslowakei flohen. 1942 wurde Charlotte schließlich von der tschechischen Fremdenpolizei verhaftet – als Jüdin. Mit großem Glück gelang ihr die Flucht in die USA, wo sie aufgewachsen war und lange gelebt hatte. Als einer „Reichsdeutschen“ wurde Toni die Emigration verweigert. Für die Geschichte der beiden war es das Ende. Getrennt starben sie früh und in Armut.

Als ich mich im braunen Pelzmantel von Toni verabschiede und unser gemeinsamer Atem im eisigen Wohnzimmer als Dampf in der Luft steht, muss ich den Schmerz des Verlusts nicht spielen. Meine Spielpartnerin auch nicht. Wir sind beide osteuropäische Migrantinnen mit einem Leben, in dem die Trennung von dem Bekannten und Geliebten unvermeidlich war. Aber noch ist es Dezember 2021 und noch weiß ich nicht, dass der Krieg kommen und sich sehr bald alles ändern wird. Noch feiere ich mit Toni den Schabbat und bringe ihr, der Konvertitin, den Segensspruch bei. Im echten Leben spricht den Segen über die Kerzen meine Frau, die noch nicht meine Frau, nicht einmal meine Verlobte ist. Am Filmset kennen nicht alle die Geschichte, die wir spielen, im Detail. Kurz gibt es Verwirrung, als ich darauf bestehe, dass Charlotte und Toni immer im Verborgenen leben konnten und niemals in ein Ghetto kamen, Baruch Hashem. Das sind die Bilder, die nicht-jüdische Deutsche nun mal gewohnt sind: „Der Pianist“ und „Schindlers Liste“.

Was es bedeutet, wenn zwei Frauen zusammen auf der Flucht sind und als Künstlerin und Übersetzerin ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, wissend, dass es jeden Tag an der Tür klopfen könnte, ist eine andere jüdische Geschichte. Dafür, dass ich sie miterzählen durfte, bin ich für immer dankbar.

Selbsthassende Lesben

Photo Credit: I AM MIA (2022)

Das Einzige, worauf wir uns verlassen können, sind die Allianzen, die wir mit anderen Menschen eingehen. Wie brüchig diese sein können, weiß wohl niemand so gut wie ein Mensch, der selbst zeitlebens darauf angewiesen war. Was ich nicht meine, wenn ich das sage, ist, dass wir uns immer auf jeden anderen Menschen verlassen können oder dass im Ernstfall unsere gegenseitige Hilfsbereitschaft und Solidarität ausreichen wird, um das, was uns bedroht, abzuwenden. Was ich meine, ist: Allianzen sind unser höchstes Gut. Mit wem wir sie eingehen, bestimmt mehr als alles andere, wer wir am Ende sind.

2015 reiste ich mit der Frau, die ich in ein paar Tagen heiraten werde, nach Warschau. Der Besuch des jüdischen Museums ist mir sehr schön in Erinnerung geblieben. An diesem Wochentag waren wir fast alleine dort. Es fühlte sich sicherer an als in der Straßenbahn, in der die unzufriedenen Blicke mancher Menschen vor allem mir galten, nicht ihr. Einmal bekam ich diesen Blick nur, weil ich im kleinen Restaurant die „guten, hausgemachten“ Pierogi mit Fleisch nicht essen wollte – meine Frau erklärte dann schnell auf Polnisch, dass ich Vegetarier war. Vielleicht hatte ich mir die Feindseligkeit auch nur eingebildet.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht. 

Auch Deutschland hat schöne Museen. Als Museumsmitarbeiter ist es mir ein Anliegen, sie zu besuchen: selbst wenn es bis zum ICE nur noch anderthalb Stunden sind und das Naturkundemuseum einer mittelgroßen ostdeutschen Landeshauptstadt winzig ist, wird es mich dennoch dorthin verschlagen. Ein Naturkundemuseum ist keineswegs unpolitisch, wenn das Herzstück der Ausstellung eine vollständige, konservierte Eiche ist, entlang deren Stamm ich eine Wendeltreppe hinaufsteige. Auf jedem Treppenabsatz ein-zwei Eichenzitate von irgendwelchen Dichtern und Denkern. Zum Glück ohne das Zitat mit der deutschen Eiche und dem Wildschwein, das sich daran kratzt, stelle ich fest. Hatte ich es hier, wo die Leute vollkommen ohne Ironie sächseln, etwa erwartet? Ich weiß es nicht.

Was mich dagegen ziemlich unvorbereitet traf, waren die Fragen des Publikums nach einer Stadtführung zum Thema „Geschichte des jüdischen Lebens in Hamburg“. Es ist eigentlich absurd, dass das jüdische Viertel Hamburgs für mich jahrelang ein Ort gewesen ist, an dem ich studieren, arbeiten und feiern gegangen bin, ohne aber mein Jüdischsein jemals auch nur in Worte fassen zu dürfen. Das Jüdischsein ist für deutsche Gojim nun mal ein ganz, ganz sensibles Thema und im Zweifelsfall hätte ich schlichtweg nicht die Autorität gehabt, darüber zu sprechen, denn ich war einer von diesen säkularen, sowjetischen Juden. Jetzt, als Alumnus der Universität, stand ich nach der Führung mit der Gruppe auf dem Platz der von Nazis zerstörten Synagoge und erlebte das Unvermeidliche. Warum denn das jüdische Leben heute so unsichtbar sei, wurde zunächst arglos gefragt. Die Führerin (Entschuldigung) antwortete sehr höflich ausweichend, wurde aber von einer Frau aus der Gruppe unterbrochen, die recht energisch einen Kurzvortrag darüber hielt, dass 60% aller antisemitischen Übergriffe von Menschen mit Migrationshintergrund ausgehen, deren steigende Zahl in den vergangenen Jahren eben auch zu einem Anstieg des Antisemitismus geführt habe.

Mein inzwischen verstorbener Opa sprach in seiner Kindheit sieben Sprachen, darunter auch Türkisch und Farsi. Wenn ich mit Granatapfel, Tahina und Koriandersträußchen an der Kasse stehe, werde auch ich gelegentlich auf Türkisch angesprochen, kann aber leider nur auf Deutsch antworten. Nicht alle von diesen Menschen sind mir gegenüber freundlich – meistens kann ich auch nicht sagen, warum. Eines kann ich aber mit Sicherheit sagen:

Die Entscheidung des Einzelnen, mir die Solidarität zu entziehen oder mich sogar anzugreifen, wird nichts daran ändern, dass ich einer Gruppe, die wie ich marginalisiert wird, weiterhin meine Solidarität anbieten werde.  

Die Behauptung, dass wir armen Detransitioner von denen, die transfeindliche Propaganda produzieren, mit offenen Armen empfangen werden, sobald wir dem Transsein abschwören, ist nichts weiter als eine Lüge. Wäre ich eine „selbsthassende Lesbe“, die nur aus verinnerlichter Frauenfeindlichkeit die Transition angetreten ist, wie sie es behaupten, dann wäre ich noch immer nicht eine von ihnen, selbst wenn ich es unbedingt wollte.

Die AfD wird die Russlanddeutschen und sogar manche sowjetischen Juden, die sich selbst für „die guten Ausländer“ halten und gegen „die schlechten Ausländer“ hetzen, niemals wirklich akzeptieren. Die AfD sind letzten Endes auch nicht die sächselnden Handwerker, die zufällig sahen, wie ich bei meiner Ankunft nachts in Erfurt nicht in das Hotel komme und mir halfen, indem sie das Schließfach zu den Schlüsseln öffneten. Die Menschen, von denen ich rede, sind Menschen mit Macht und Geld, die trotz allem, was ihre Vorfahren sich unter den Nagel gerissen haben, der festen Überzeugung sind, zeitlebens für ihren Erfolg gearbeitet zu haben und überhaupt ihres eigenen Glückes Schmied gewesen zu sein. Der unerschütterliche Glaube an das eigene Gute ist der beste kleinste gemeinsame Nenner. Wie schön wäre es, wenn ich auch nur einmal im Leben mit der Selbstverständlichkeit dieser Menschen einkaufen, Bahn fahren, aufs Klo gehen könnte. Dass ich es nicht kann, wird mir oft genug signalisiert, wenn ich es dennoch versuche.

Ich habe in meinem Leben bereits versucht, Allianzen mit denen einzugehen, die in dieser Gesellschaft die meiste Macht haben. Diese Allianzen sind nicht weniger brüchig als alle anderen, nur haben sie einen entscheidenden Nachteil: solange sie bestehen, sitze ich am kürzeren Hebel und wenn sie zerbrechen, dann immer an meinem Ende. Das bedeutet: mir werden die Vorteile meiner Integrationswilligkeit wieder entzogen und ich darf sehen, wo ich bleibe. Manchmal erzähle ich davon, dass mein estnischer Nachname von Deutschen, die mich noch nicht kennen, erstaunlich oft mit langem A ausgesprochen wird. So werde ich, ein Kappo, gegen meinen Willen zum Kapo gemacht. Eigentlich kein lustiger Scherz.

In der herbstlichen Abenddämmerung auf der Stelle der ehemaligen Bornplatzsynagoge stehend beschloss ich, erstmal nichts zu sagen. Es war kalt, ich war müde, die Frau mit den 60% würde wegen mir ihre Haltung wohl kaum ändern. Als wir hinterher alleine waren, tauschte ich mich mit der Historikerin, die die Führung geleitet hatte, aus und outete mich als Jude. Ich sagte ihr auch, dass das Erstarken der AfD in den letzten Jahren ganz sicher nicht zu einer deutsch-jüdischen Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit beigetragen hat. Sie gab mir Recht. Es war ein kurzes, merkwürdiges Gespräch.

„Ein Jude ohne eine Gemeinde ist nichts!“, warf ich meiner Frau entgegen, als wir uns einmal stritten. Mein vorbildlich-deutsches Anpassungsbestreben traf ein weiteres Mal auf den Ungehorsam, der – so kommt es mir vor – wie eine Naturgewalt bei jeder Gelegenheit aus ihr sprudelt. Zeit meines Studiums sah ich die hohen Zäune der Joseph-Carlebach-Schule nur von außen. Drinnen wurde ein Jude wie ich schlichtweg nicht erwartet. Regelrecht dankbar bin ich heute für die ersten, zarten Verbindungen, die seit Kurzem zwischen mir und der Liberalen Gemeinde entstanden sind. Die perfekte jüdische Gemeinde, die Menschen wie meine Frau und mich mit all unseren Farben aufnimmt, gibt es in Deutschland noch nicht – wir können aber zusammen mit denen, die es bereits gibt, daran arbeiten. Das gilt eigentlich für alle Communities, die es (noch) nicht gibt, obwohl Menschen wie ich existieren, existiert haben und existieren werden.

Ich existiere nicht im Vakuum. Ich existiere durch meine Entscheidungen, durch die Reibung an und mit anderen Menschen, durch meine Freundschaften, durch meine Solidarität mit anderen. Der, der ich bin, bin ich auch und vor allem durch meine Gemeinde und meine Gemeinden.

Oder, wie ich im Familienchat schreibe:

Гемайнда (Gemeindah)