Pogromnächte

Ich bin einer von den Menschen, die niemals träumen. Seit neulich ist das anders. Die wildesten Albträume jagen mich, wie neulich der, in dem mein linker Eckzahn auf eine besonders hässliche Weise entzweibrach, den Zahnnerv frei legend. Damit war es nicht zu Ende: ich biss mir versehentlich meine eigene Zunge ab, vollkommen ohne Blut oder Schmerzen. Der große, unförmige Fleischlappen in meiner Hand irritierte mich sehr. “Was tun?”, dachte ich im Traum, “Lässt sich das wieder rannähen?”

Als ich meiner Frau von diesem Traum erzählte, rief sie bedauernd aus, dass ich wohl nie wieder Zunge für sie kochen könnte. Ich dachte zurück an einen frühen Abend im Januar dieses Jahres, als ich mit Einkäufen nach Hause fuhr. Ich erinnere mich vor allem an den Blick eines anderen Menschen in der Bahn. Wahrscheinlich eine weiße Deutsche, die die halbtransparente Plastiktüte vom türkischen Metzger mit einer Mischung aus Entsetzen, Ekel und Vorwurf ansah. Erst in diesem Moment schien ich zu bemerken, dass in der Tüte ein unterarmlanges Stück Fleisch lag, ungeschnitten, roh, blutend. Verlegen drehte ich mich weg, meinen Einkauf schwer in der Hand haltend. Was ist mir wichtiger: die Kindheitserinnerungen an ein Festtagsessen und meiner Frau zu ihrem Geburtstag das zu kochen, was sie sich gewünscht hat, oder mein Mitgefühl mit einem Lebewesen, das eine Zunge hat wie ich selbst?

Was bedeutet es für einen Autor, seine Sprache zu verlieren? Was bedeutet es für jemanden wie mich, der ich nun schon seit Jahren logopädisches Training mache, nicht mehr sprechen zu können? Wie es ist, keine Worte zu haben, weiß ich seit meiner Kindheit sehr gut. Manchmal reicht ein sogenannter Migrationshintergrund aus, um ein Kind stumm zu machen, manchmal ist es die Angst vor erlebter und noch zu erlebender Gewalt. Manchmal sitzt die Gewalt aber schon im Körper eines Menschen, bevor er zur Welt kommt.

Die Nachrichten aus Dagestan verbreiteten sich vor allem unter post-sowjetischen Menschen wie ein Lauffeuer. Die jüdischen von ihnen reagierten darauf nicht nur mit Entsetzen, sondern auch wie mit einer großen Taubheit. Eine Frage der Zeit war es gewesen, natürlich, darüber herrschte unter Juden Einigkeit. Vor allem sowjetisch jüdische Zeit wird so berechnet: als Halbwertzeit bis zum nächsten Pogrom. Ich spürte unterdessen eine große innere Aufruhr, einen Drang, etwas wirklich Großes und Wichtiges zu schreiben. Ich schrieb aber nur einen einzigen Satz:

Stell dir vor, der Moment, in dem die Welt am meisten über deine Leute erfährt, ist der Moment ihrer Vernichtung.

Ich suchte seit meiner frühen Jugend in unregelmäßigen Abständen nach dem, was mir in russischer Sprache erzählt wurde und fand erst Nichts, dann einen kurzen, dann einen langen und schließlich sogar deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag. Ich fand die Online-Präsenz einer Gruppe orthodoxer Juden und den offiziellen Vertreter “meiner” Leute auf deutschem Boden: einen noch recht jungen Osteuropäer mit Bart und Kippa. Das waren sie also, die anderen “Bergjuden”.

Kultur, Sprache oder Tradition waren nie wirklich Bestandteil meines bescheidenen Erbes gewesen. Farsi und Juhuri hatte mein Opa abgelegt, als er für das Studium nach Leningrad zog. Seinen eigenen Vornamen änderte er in einen russischen. In seinem Leben, das aus harter Arbeit, großer Entbehrung und schließlich großer Enttäuschung bestand, war kein Platz für Religion. Alles, was mir von meiner dagestanisch-jüdischen Herkunft noch bleibt, ist mir in das Fleisch eingeschrieben: meine früh erlernte Vorliebe für Lamm, Koriander und scharfe Gewürze. Meine gelbliche Haut, die vor allem in unbeschwerten jungen Jahren des mangelnden Sonnenschutzes schnell eine satte Bräune zeigte und noch tief in den Herbst hinein bronzefarben blieb.

Am Abend des vierten Januars stehe ich mit meinen Einkäufen vom türkischen Markt in der Küche. In meiner Vergangenheit war ich Biologe und Bestatter. Den körperlichen Tod habe ich nie gescheut. Aber plötzlich finde ich in der Plastiktüte das Grauen, etwas wirklich Schreckliches: eine zweite Zunge, die sehr viel kleiner ist. Auch sie ist vom Rind, meine Nase und mein erfahrenes Auge können das erkennen. Eine kleine Zunge von einem kleinen zweiten Tier.

Was brauchen wir Menschen, um Mitgefühl mit anderen zu haben? Was müssen wir uns sagen, damit die Scham uns nicht mehr sticht, damit wir nachts nicht wach liegen? Welche guten politischen Gründe und welche übergeordneten moralischen Grundsätze erzählen wir uns gegenseitig, um zu erklären, warum das Unrecht geschehen musste oder noch geschehen wird? Ist nicht das Mitgefühl mit und unter Menschen eigentlich das Ungewöhnliche, das Unnatürliche? Was unterscheidet einen “Bergjuden” zum Beispiel von einer “Bergziege”, die doch auch bestimmt vom Aussterben bedroht und durchaus irgendwie putzig ist? Wie können wir denn überhaupt leben, wenn nicht auf Kosten anderer Lebewesen?

Sicher sind schon lange vorher Juden ermordet worden, aber meine persönliche Realität zerbrach endgültig am Morgen des 7. Oktobers. Was zerbrach, war mein Glaube daran, dass die meisten in meinem Umfeld Empathie mit mir und Leuten wie mir haben werden, wenn sowas geschieht. Der Glaube war ohnehin nie besonders stark. Wiederkommen wird er nicht.

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